Das Märchen von der Traurigkeit von Inge Wuthke
Es war eine kleine Frau,die den staubigen Feldweg entlang kam. Sie war
wohl schon recht alt, doch ihr Gang war leicht und ihr Lächeln hatte den
frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens. Bei der zusammengekauerten
Gestalt blieb sie stehen und sah hinunter. Sie konnte nicht viel
erkennen.
Das Wesen,das da im Staub des Weges sass,schien fast körperlos. Es
erinnerte an eine graue Flanelldecke mit menschlichen Konturen. Die
kleine Frau bückte sich ein wenig und fragte:“Wer bist du?“
Zwei fast leblose Augen blickten müde auf. „Ich? Ich bin die
Traurigkeit“,flüsterte die Stimme stockend und so leise,das sie kaum zu
hören war.
„Ach die Traurigkeit!“ rief die kleine Frau erfreut aus,als würde sie
eine alte Bekannte grüssen. Du kennst mich?“ fragte die Traurigkeit
misstrauisch. „Natürlich kenne ich dich! Immer wieder einmal hast du
mich ein Stück des weges begleitet.“
„Ja aber…“
argwöhnte die Traurigkeit, „Warum flüchtest du dann nicht vor mir? Hast
du denn keine Angst?“ „Warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine
Liebe? Du weisst doch selbst zu gut das du jeden Flüchtigen einholst.
Aber,was ich dich fragen will: „Warum siehst du so mutlos aus?“
„Ich…ich bin traurig“, antwortete die graue Gestalt mit brüchiger
Stimme.
Die kleine,alte Frau setzte sich zu ihr. „Traurig bist du also“, sagte
sie und nickte verständnisvoll mit dem Kopf. „Erzähl mir doch,was dich
bedrückt.“ Die Traurigkeit seufzte tief. Sollte ihr diesmal wirklich
jemand zuhören wollen?
Wie oft hatte sie sich das schon gewünscht. „Ach,weisstdu“,begann sie
zögernd und äusserst verwundert,“es ist so,das mich einfach niemand mag.
Es ist nun mal meine Bestimmung, unter die Menschen zu gehen und für
eine gewisse Zeit bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme,
schrecken sie zurück.
Sie fürchten sich vor mir und meiden mich wie die Pest.“ Die Traurigkeit
schluckte schwer. „Sie haben Sätze erfunden, mit denen sie mich bannen
wollen. Sie sagen:Papperlapapp,das Leben ist heiter“: Und ihr falsches
Lachen führt zu Magen-Darm-Krämpfen und Atemnot. Sie sagen“Gelobt sei,
was hart macht“ und dann bekommen sie Herzschmerzen. Sie sagen:“ Man
muss sich zusammenreissen.“ Und sie spüren das Reissen in den Schultern
und im Rücken. Sie sagen:“ Nur Schwächlinge weinen.“ Und die
aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder aber sie betäuben
sich mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen.
OH ja“, bestätigt die alte Frau,“ solche Menschen sind mir schon oft
begegnet.“ Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen.
Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei
ihnen bin,können sie sich selbst begegnen,ich helfe ihnen, ein Nest zu
bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist hat eine sehr dünne
Haut. Manches Leid bricht wieder auf wie eine schlecht verheilte Wunde,
und das tut sehr weh. Aber nur , wer die Trauer zulässt und all die
ungeweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen.
Doch die Menschen wollen gar nicht, das ich ihnen dabei helfe.
Stattdessen schminken sie sich ein grelles Lachen über ihre Narben. Oder
sie legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit zu.“
Die Traurigkeit schwieg.
Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker und schiesslich ganz
verzweifelt. Die kleine, alte Frau nahm die zuammengesunkene Gestalt
tröstend in ihre Arme. Wie weich und danft sie sich anfühlt, dachte sie
und streichelte zärtlich das zitternde Bündel. Weine nur,Traurigkeit“;
flüsterte sie liebevoll.“ruh dich aus,damit du wieder Kraft sammeln
kannst. Du sollst von nun an nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich
begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr an Macht gewinnt.“
Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und
betrachtete erstaunt ihre neue Gefährtin.
„Aber…aber-wer bist eigentlich du?“
„Ich?“ sagte die kleine, alte Frau schmunzelnd, und dann lächelte sie
wieder so unbekümmert wie ein kleines Mädchen:“
„Ich bin die Hoffnung:“
Eine Antwort auf „Das Märchen von der Traurigkeit – Inge Wuthke“
Ein schönes Märchen ist das. Es erinnert mich an zweierlei: zum einen an eine Cd von Nick Cave, die ich habe und auf der er neben einigen LIedern auch zwei sehr schöne Essays liest. Und im einen geht es ebenfalls um die Traurigkeit. Und er sagt, daß auch er ein Fürsprecher der Traurigkeit sein möchte, die in der Klasse ganz einsam in der hintersten Reihe sitzt und sich in die Hosen macht und niemand möchte mit ihr reden. Das hat mich damals schon sehr überzeugt und hat die gleiche Wirkung auf mich wie dieses Märchen.
Und dann dachte ich noch, daß es auch eine Variante von die-Traurigkeit-nicht-zulassen sein kann, wenn Menschen immer sagen: wie gut es mir doch geht im Vergleich zu anderen! Das mag auch mal Trost sein und Kraft geben, aber es kann eben auch dazu führen, zum Beispiel bei menschen mit dem sog. „HelferInnen-Syndrom“, daß sie mit der ständigen Aktivität für andere ihre eigenen Kümmernisse und Sorgen betäuben. Und das hat wahrscheinlich auch Langzeitwirkungen. Aus gegebenem anlaß dachte ich neulich mal darüber nach, und als ich nun das Märchen las, dachte ich wieder daran. Es war jedenfalls sehr schön und nachdenkenswert. Danke für ein paar echt wertvolle Minuten.